Der Schmu mit den Zitaten aus Karlsruhe

In den Diskussionen über die Ehe für alle kursieren gerade diverse Zitate des Bundesverfassungsgerichts. Gegner der Gleichstellung erwecken damit den Eindruck, die Richter hätten längst endgültig festgelegt, was eine Ehe sein darf und was nicht. Aber das stimmt nicht. Schauen wir uns den Text genau an.

Karlsruhe deutete Wandel des Ehebegriffs schon 1993 an

Fangen wir mit der ältesten Entscheidung an, die dazu gerade ausgegraben wird und als vermeintlicher Beweis für die unumstößliche Ehedefinition präsentiert wird:

Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß die Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG die Vereinigung von Mann und Frau zu einer Lebensgemeinschaft ist.
Beschluss vom 4. Oktober 1993 – 1 BvR 640/93

Demach wäre das gerade beschlossene Gesetz zur Eheöffnung für gleichschlechtliche Paare verfassungswidrig, zumindest bräuchte es eine Grundgesetzänderung. Die Formulierung klingt sehr absolut, aber ich habe schon einmal gute Erfahrungen damit gemacht, in Streitfragen das Original nachzulesen. Siehe da, nur einen Absatz weiter schreibt das Bundesverfassungsgericht:

In der Verfassungsbeschwerde werden keine wesentlichen neuen Gesichtspunkte aufgezeigt, die Anlaß zu einer Überprüfung dieser Rechtsprechung geben könnten. Insbesondere sind hinreichende Anhaltspunkte für einen grundlegenden Wandel des Eheverständnisses in dem Sinne, daß der Geschlechtsverschiedenheit keine prägende Bedeutung mehr zukäme, nicht erkennbar.

Auch wenn das Paar damals mit seiner Verfassungsbeschwerde abgeblitzt ist: Das Verfassungsgericht räumt also selbst ein, dass es mal einen Anlass geben könnte, die Rechtsprechung zur Ehe zu überprüfen. Dies ergäbe keinen Sinn, wenn aus Sicht der Richter die Definition als Vereinigung von Mann und Frau in Stein gemeißelt wäre.

2002 wurde das BVG noch deutlicher

Und auch eine weitere Passage, mit der Gleichstellungsgegner die Verfassungswidrigkeit der Ehe für alle belegen wollen, wird zum Bumerang:

Allerdings kann die Ehe nur mit einem Partner des jeweils anderen Geschlechts geschlossen werden, da ihr als Wesensmerkmal die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner innewohnt (vgl. BVerfGE 10, 59 <66>) und sich nur hierauf das Recht der Eheschließungsfreiheit bezieht.
Urteil vom 17. Juli 2002 – 1 BvF 1/01

Verfassungsexperten reden sich die letzten Tage den Mund fusselig, dass es hier auf den Kontext ankommt. Die Klage damals richtete sich gegen die Einführung der Lebenspartnerschaft. Das Gericht vergleicht hier die Lebenspartnerschaft mit dem Status Quo der Ehe – es ist also schlicht eine Beschreibung der aktuellen Rechtslage, auch wenn „Wesensmerkmal“ sehr allgemeingültig klingt. Im selben Urteil macht Karlsruhe klar, dass der Gesetzgeber auch Veränderungen vornehmen darf:

Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Ehe, wie sie vom Gesetzgeber unter Wahrung ihrer wesentlichen Grundprinzipien jeweils Gestalt erhalten hat (vgl. BVerfGE 31, 58 <82 f.>). Als von Menschen gelebte Gemeinschaft ist sie Freiheitsraum und zugleich Teil der Gesellschaft, von deren Veränderungen sie nicht ausgeschlossen ist. Auf solche kann der Gesetzgeber reagieren und die Ausgestaltung der Ehe gewandelten Bedürfnissen anpassen.

Diese Passage ist also hervorragend zum Konter geeignet – es wundert ein wenig, dass sie in der Debatte so wenig herangezogen wird. Manche Verfassungsrechtler übrigens halten die Eheöffnung sogar für verfassungsrechtlich geboten. Das alles bedeutet aber nicht, dass die Ehe für alle automatisch ohne Grundgesetzänderung verfassungskonform ist. Denn in der Sache hat sich das Bundesverfassungsgericht noch nie konkret dazu geäußert, ob die Ehe ohne weiteres für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden darf. Hier sollte sich keine Seite zu siegessicher sein. Aber man muss sich umgekehrt auch nicht von zusammenhangslosen juristischen Textfetzen allzusehr beeindrucken lassen. Warten wir es ab.

4 Gedanken zu „Der Schmu mit den Zitaten aus Karlsruhe

  1. fink sagt:

    Herzlichen Dank! Kann bitte jemand diesen Text in alle Redaktionen der Zeitungen schicken, die sich gerade so kompetenzfrei um eine „Klärung“ dieser Frage bemühen und sich dabei nicht einmal die Mühe machen, die Entscheidungen des BVerfG selbst zu recherchieren und zu lesen?

  2. Dorothea sagt:

    Danke für die Informationen!
    Ich habe in meinem Blog auch über Zitat2 der BVG Urteilsbegründung von 2008 gebloggt. Damals hat das Bundesverfassungsgericht nämlich die „gleichgeschlechtliche Ehe“ schon ermöglicht – nämlich für transsexuelle Menschen, die sich gemäß Transsexuellengesetz sonst hätten scheiden lassen müssen. Mehr dazu hier: https://aufwind2012.wordpress.com/2017/07/02/derzeit-fragen-viele-befuerworter-der-ehe-fuer-alle-ob/
    Nun muss nur das Transsexuellengesetz selbst durch ein moderes Gesetz ersetzt werden. Dazu gibt es hier eine Petition: https://www.openpetition.de/petition/online/selbstbestimmungsgesetz-selbstbestg-jetzt-beschliessen
    Ich bin gespannt, ob es eine Verfassungsbeschwerde geben wird – ich halte sie für wenig erfolgversprechend.

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